Montag, 6. Februar 2017

Fliegt uns die EU demnächst um die Ohren? (Kommentar)

Den Brexit hat noch am Tag der Wahl kaum jemand für wahrscheinlich gehalten, am nächsten Morgen dann der Schrecken: Eine knappe Mehrheit der Wähler hat für den Austritt des Vereinten Königreiches (United Kingdom, UK) aus der Europäischen Union (EU) gestimmt. In Kürze stehen Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Italien an, wo europafeindliche Parteien Chancen haben, ins Parlament und eventuell auch an die Regierung zu kommen. Diese wollen sich ebenfalls für einen EU-Austritt ihrer Länder einsetzen. Hat die EU noch eine Chance?

Was muss passieren, damit die EU-Bürger ihre Union wirklich schätzen und verteidigen?

Für viele von uns, denen die EU wichtig ist, war die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, wie ein Schlag ins Gesicht – als würde man von Freunden im Stich gelassen. Doch wenn ich heute mit etwas Abstand zurückblicke, denke ich, man hätte die Anzeichen eigentlich erkennen und frühzeitig dagegenhalten müssen.

Anstehende Wahlen in Europa

Niederlande Parlamentswahlen März 2017
Die rechtspopulistische Partei PVV liegt aktuell in Umfragen vorne.

Frankreich Präsidentschaftswahlen April/Mai 2017
Marie Le Pen von der rechtsextremen und antieuropäischen Partei Front National wird möglicherweise die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewinnen. Die Frage ist, ob sich die Wähler der anderen Parteien mehrheitlich hinter ihren Gegenkandidaten bei der anschließenden Stichwahl stellen werden.

Deutschland
26. März Saarland Landtag
7. Mai Schleswig-Holstein Landtag
14. Mai Nordrhein-Westfalen Landtag
24. September alle Bundesländer Bundestag

Italien Parlamentswahl Mai 2018

Die Europäische Union (EU) ist aus einer Wirtschaftsgemeinschaft entstanden. Die wirtschaftliche Verflechtung der beteiligten Länder sollte das Wirtschaftswachstum ankurbeln und in Zukunft Kriege verhindern. Zwar wuchs die EU auch einigermaßen zu einer Wertegemeinschaft und einer (wirtschafts-)politischen Kraft zusammen, aber sie wurde und wird nach wie vor von vielen EU-Bürgern als in Brüssel verorteter Fremdkörper angesehen, dessen Arbeitsweise mal als kleinkrämerisch bürokratisch (Gurkenverordnung) bis allzu banken- und unternehmensfreundlich (Bankenrettungen, Pestizidzulassungen, Gentechnik etc.), auf jeden Fall wenig arbeitnehmer- und verbraucherfreundlich wahrgenommen wird.

Da einige nationale Politiker gerne die EU zum Sündenbock erklären, wenn sie unpopuläre Entscheidungen treffen, statt diese vernünftig zu begründen, und sie die Entwicklungen der EU selten als positiv herausstellen, haben wohl nicht wenige EU-Bürger den Eindruck, dass die EU für sie und ihr Land ein Klotz am Bein ist, der Geld kostet, ihnen Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt auf den Hals hetzt (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Asylrecht) oder sie mit Umweltauflagen quält.

Es wird ihnen nicht oder zu selten erklärt, dass sie die vielen Vorteile der EU für die Bürger auch mit einigen Nachteilen (vorübergehend) erkaufen beziehungsweise dass manche der Sorgen überhaupt nicht auf die EU zurückzuführen sind, sondern auf den digitalen Wandel und Entwicklungen in der Welt. Und leider scheint auch vergessen zu werden, dass das eigene Land, die eigene gewählte Regierung, die EU zu dem mitgeformt hat, was sie heute ist. Und sie haben als EU-Bürger auch das Recht und die Möglichkeit, sie mit- und umzugestalten – beispielsweise über die Europawahlen, Europäische Bürgerinitiativen, Petitionen etc.

Meiner Meinung war es ein sehr großer Fehler der britischen Regierung, keine genaueren Bedingungen für das EU-Referendum zum Ausstieg oder Verbleib zu stellen. Einen Austritt bei einer einfachen Mehrheit bei gleichzeitig keinerlei Anforderungen an die Wahlbeteiligung in Aussicht zu stellen, war unverantwortlich - der damalige Premierminister David Cameron hatte die Lage offensichtlich völlig falsch eingeschätzt. Obwohl das Ergebnis des EU-Referendums eigentlich nicht rechtlich bindend ist, will sich nun niemand „dem Willen des Volkes“ entgegenstellen. Eine verfahrene Situation, denn es ist die Frage, ob das Ergebnis tatsächlich der Wille des Volkes ist - viele erklärten nach dem Referendum, sie seien schlecht aufgeklärt oder sogar von den Leave-Vertretern belogen worden.

Die Möglicheit, einfach so mal auszusteigen und die Verantwortung den anderen EU-Ländern und -Bürgern zu überlassen, hätte aber auch durch die EU selbst verhindert werden müssen. Man hätte eine entsprechende Klausel in das Vertragswerk aufnehmen können (beispielsweise: Ausstieg nur nach Volksabstimmung mit Zweidrittelmehrheit bei mindestens 70 % Wahlbeteiligung möglich o. Ä). Allerdings in der jetzigen Situation kurz vor den nächsten nationalen Wahlen solche Regeln auf EU-Ebene einzuführen, geht auch nicht, denn dann würden sich viele möglicherweise gegängelt fühlen. Dieser Zug ist erst einmal abgefahren, bis wieder etwas mehr Ruhe eingekehrt ist.

EU - we are family

Aber selbst wenn die Regierung eines Landes so eine Entscheidung mit einer einfachen Mehrheit erlaubt, dürfte es nicht zu so einem traurigen Ergebnis wie in Großbritannien kommen. Wenn die Menschen selbst sich als Europäische Gemeinschaft oder gar Europäische Familie begreifen würden, die für sie erweiterte Heimat, Sicherheits- und Wohlstandsgarant sein kann, würden sie die EU nicht freiwillig verlassen wollen. Doch so ist es aktuell in vielen Ländern nicht.

Anzeige



Damit es soweit kommt, dass mehr Bürger ihr Herz nicht nur an das eigene Land, sondern etwas davon auch an die EU hängen, muss die Politik meiner Meinung nach viel deutlicher auf die Bürger zugehen, ihnen zuhören, sie ernst nehmen und sie noch offensiver zum Mitgestalten auffordern. Jeder einzelne Bürger muss das Gefühl haben, dass er der nationalen und der EU-Politik wichtiger ist als Banken oder Unternehmen beziehungsweise müssen Zusammenhänge besser erklärt werden – beispielsweise, was die Rettung einer Bank oder eines anderen Unternehmens dem Bürger bringt, der diese Rettung ja letztendlich bezahlt. Umgekehrt müssen wir Bürger dies auch noch stärker von der Politik auf nationaler und EU-Ebene einfordern.

Auf Dauer kann meiner Meinung nach nur eine EU der Menschen Bestand haben – die Wirtschaft sollte immer nur Mittel zum Zweck sein.

Weitere Informationen


Kommentar veröffentlichen