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Donnerstag, 5. Oktober 2017

Wer die Bundestagswahl wirklich verloren hat (Kommentar)

In einigen Medien werden derzeit die SPD und ihr Kanzlerkandidat Schulz geschlachtet - sie seien die großen Verlierer der Bundestagswahl. Diese Deutung ist meiner Meinung nach nicht nur unfair, sondern auch falsch.

Auf den ersten Blick scheint alles klar zu sein: Der Balken der Union ist in der Wahlergebnisgrafik wie gewohnt recht groß und der der SPD daneben kleiner. Also hat die SPD verloren. Doch das täuscht.

Statistik: Vorläufiges Ergebnis der Bundestagswahl in Deutschland am 24. September 2017 (Zweitstimmen) | Statista
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Man sollte genauer hinschauen

Zwar ist die Union aus CDU/CSU noch immer die größte Fraktion (solange die beiden in der Union zusammenbleiben), aber schaut man genauer, wessen Wähler im Vergleich zu 2013 verlustig gegangen sind, dann sieht man, wer gewonnen und wer verloren hat.

Manche Wähler wollten die Große Koalition nicht mehr

Alle an der Regierung beteiligten Parteien verloren Stimmen, während alle anderen Parteien zulegten. Das deutet auf eine Unzufriedenheit mit der Großen Koalition oder zumindest auf eine gewisse Überdrüssigkeit hin.

Veränderungen zur letzten Wahl 2013 laut Bundeswahlleiter (gefunden bei Spiegel Online), geordnet vom größten Wählerverlust zum höchsten Wählergewinn:
  • Unionsfraktion gesamt -8,6 %, davon: 
    • CSU ca.    -10,8 %
    • CDU ca.     -8 %  
  • SPD ca.  -5,2 % (im CSU-Land Bayern sogar noch weniger) 
  • Sonstige -1,2 % 
  • Grüne    +0,5 %
  • Die Linke +0,6 %
  • FDP       +5,9 % 
  • AFD      +7,9 % 
Als Grafik ohne Sonstige und CDU und CSU gesplittet sieht das so aus:


Ergebnis der Bundestagswahl 2017: Wählerstimmen-Gewinne/Verluste im Vergleich zu 2013 in Prozent

Hauptverlierer der an der Regierung beteiligten Parteien ist eindeutig die CSU, ihr sind immerhin fast 11 Prozent der Wähler abhandengekommen, gefolgt von der CDU, die 8 Prozent weniger Wähler hatte - trotz deren KanzlerInnen-Vorteil!

Die SPD schnitt von den drei an der Regierungskoalition beteiligten Parteien am besten ab, sie verlor etwas über 5 Prozent ihrer Wähler (im CSU-dominierten Bayern weniger). Wie viel davon der konstruktiven Regierungsarbeit der einzelnen SPD-Minister, wie viel dem Kanzlerkandidaten Schulz, wie viel der Angst vor einer Koalition mit Die Linke und wie viel den Nach- und Nebenwirkungen durch ehemaliges Führungspersonal wie dem früheren Bundeskanzler Schröder positiv oder negativ zuzurechnen sind, könnte man nur durch eine Befragung unter den SPD-Wählern herausfinden. Mir ist leider keine solche Wählerbefragung bekannt.

Auffällig ist, dass die Parteien, die während der großen Koalition in der Opposition waren, nur geringfügig von der Unzufriedenheit eines Teils der Bürger profitieren konnten. Die Grünen dürften davon profitiert haben, dass eine andere Gruppe der Wähler eine schwarz-gelbe Koalition verhindern und die Themen Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung etc. in einer möglichen Jamaica-Koalition stärken wollten.

Was von der Großen Koalition 2013 - 2017 bleibt

Ich glaube die drei Parteien werden ganz unterschiedlich in Erinnerung bleiben:

Die SPD hatte 2013 Wahlziele, die ihr gut standen, und hat diese in der Großen Koalition 2013 bis 2017 auch recht gut umsetzen können: Mindestlohn, Frauenquote, Kindergeld, Kita-Plätze, Mietpreisbremse, Erwerbsminderungsrente, Ehe für alle und vieles mehr. Diese hauptsächlich von der SPD erarbeiteten Errungenschaften wirkten sich meiner Meinung nach positiv auf die Zufriedenheit mit der Regierung insgesamt aus. Ich glaube nicht, dass sonst über 50 Prozent der Wähler wieder eine der der drei Regierungsparteien/-fraktionen gewählt hätten (Union 32,9 %, SPD 20,5 %).

Die CDU unter Frau Merkel hängte ihr Segel in den Wind, und wartete, dass sie vorangetrieben wurde - das wurde - wie auch schon vorher, als sie das Ende der Atomkraft der rot-grünen Vorgängerregierung wieder zurücknahm, um es nach dem Unglück von Fukushima wieder einzuläuten - mal wieder ein Schlingerkurs.
In meiner Erinnerung bleiben von der CDU die Schwarze Null, verelendende Griechen, ein oft inkompetent kommentierender Innenminister, eine uneindeutige, unvorbereitete und schlecht kommunizierte Flüchtlingspolitik und ein Deal mit dem türkischen Staatschef Erdogan - letzteren fand ich allerdings im Gegensatz zu den meisten Kommentatoren einen überraschenden und klugen Schachzug von Merkel, es war eine historische Chance für Erdogan, sich positiv darzustellen und sich der EU zu nähern, die er leider nicht ergriff, sondern erfolglos für Erpressungsversuche und anderes unwürdiges Verhalten zu nutzen versuchte - ein trauriges Kapitel in der türkischen Geschichte vor allem für jene Türken, die sich für Demokratie einsetzen und der Trennung von Staat und Religion gemäß des Staatsgründers Atatürk treu bleiben wollten. Aber zurück zu unseren eigenen Problemen: Die Ausrüstung der Bundeswehr - sie ist immer noch miserabel und die Verteidigungsministerin hat es sich in einer Krisensituation mit dem führenden Bundeswehrpersonal versaut. Fazit: Der/die dritte VerteidigungsministerIn der Union wurde verschlissen, ohne dass man den Eindruck hat, dass da wirklich was vorwärtsging.
Von der Willkommenskultur und der Klimakanzlerschaft ist auch nicht viel geblieben und unsere Vorreiterrolle in Sachen umweltfreundlicher Energie und Technologien, erworben in den Jahren, als die Grünen noch mitregierten, sehe ich leider auch dahinschwinden.
Frau Merkel steht jedoch für Ausdauer in Verhandlungen, Ruhe und Besonnenheit (sowie Aussitzen und Stillstand) in Krisen, für einen professionellen Umgang mit führenden Politikern anderer Länder sowie für Fleiß und erfreuliche Bescheidenheit im Auftreten. Vor allem ihrem Image als Ruhepol in Europa, aber auch der erfolgreichen Arbeit der SPD innerhalb der Koalitionsregierung hat die Union es meiner Ansicht nach zu verdanken, nicht stärker von den Wählern abgestraft worden zu sein.

Die Arbeit der CSU auf Bundesebene bleibt mir mit Aktionismus, Benachteiligung vom Land gegenüber der Stadt, Umweltverschmutzung (Abgasskandalabwiegelung, Umweltbelastung durch konventionelle Landwirtschaft) und Anbiederung an die AFD in Erinnerung: Wie wichtig war ein neues Punktesystem für Verkehrssünder oder eine Maut für PKW? Warum wurden keine Anreize, beispielsweise mit besserer Infrastruktur, Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln, für das Leben auf dem Land gesetzt - das würde die Wohnungsnot in den Städten und die Verarmung und Vereinsamung der verlassenen Alten auf dem Land verringern. Warum ging die Reparatur von Straßen und der Ausbau der Kommunikationsnetze so langsam voran?
Ja ja, das ist doch nicht alles (nur) Bundessache - aber man hätte darüber diskutieren und diese Grenze möglicherweise verschieben können. Auf die intransparenten und umstrittenen ÖPP-Projekte für den Autobahnbau kann der CSU-Verkehrsminister auch nicht wirklich stolz sein. Und warum wird zu wenig für eine umweltverträglichere Landwirtschaft getan, sondern vor allem die industrielle Landwirtschaft unterstützt? Auch dies ein Thema, das im Aufgabenbereich eines CSU-Ministers lag. Wie viele andere wurde es meiner Meinung nach zu wenig verbraucher- und nachhaltigkeitsorientiert angegangen.
Am meisten wird mir aber in Erinnerung bleiben, wie CSU-Chef Seehofer, der auch Regierungsmitglied war und möglicherweise bleibt, die Bundeskanzlerin öffentlich abkanzelte und demütigte und wie er und sein Hofstaat in einer schwierigen Situation die Angst vor Fremden schürten und sich der AFD anbiederten, um sich (erfolglos) zu profilieren, statt aufzuklären und konstruktiv an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Dass die AFD so stark werden konnte, laste ich persönlich zu einem großen Teil ihm und seinesgleichen an.

Wer sich anbiedert, verliert! Und das ist gut so.

Erst Willkommenskultur, die zwar nicht vorbereitet und dann auch nicht genügend nach unten im Verwaltungsapparat durchgestochen und auch nicht anhaltend zuversichtlich an die Bürger kommuniziert wurde, die trotzdem viele Menschen auf den Plan rief, die sich freiwillig ehrenamtlich und bis zur Erschöpfung dafür engagierten, dass diese Menschen, die da mit ein paar Plastiktüten und einem Handy mehrheitlich aus Kriegsgebieten ankamen, etwas Menschlichkeit erfuhren. Dann die Rolle rückwärts ins Unmenschliche vor allem dank Druck der CSU: Da wird plötzlich Afghanistan pauschal als ungefährlich eingestuft und sogar unbescholtene, gut integrierte Leute dorthin zurückgeschickt. Bei uns aufgeschlagene Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die von ihren Familien vorausgeschickt worden waren, um einen Platz für die Familie in dieser Welt zu finden, dürfen ihre Frauen und Kinder nun nicht nachholen. Schämt euch!

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Und trotz des Verhaltens von Seehofer und der CSU hat die AFD die meisten Stimmen bei der Union abgefischt sowie Nichtwähler mobilisiert (siehe die Wählerwanderungen im Spiegel Online)!

Damit wir nicht alle zu VerliererInnen werden

Nicht nur, dass die AfD die meisten politischen Diskussionen, TV-Sendungen und (Online-)Veröffentlichungen der vergangenen Monate bestimmt hat und dass sie die Geflüchteten, von denen in Wahrheit kaum noch welche bis zu uns kommen, für eine angeblich vervielfachte (Terror-)Gefahr verantwortlich gemacht hat, es bleibt zu befürchten, dass das nun so weitergehen soll, wenn diese Partei im Bundestag sitzt. Wenn wir nicht etwas dagegen tun!

87,4 Prozent der Wähler haben nicht die AFD gewählt!

Man kann nur hoffen, dass möglichst viele KonsumentInnen von Medien und TeilnehmerInnen in sozialen Netzwerken erkennen, dass Parteien am äußeren Rand gezielt mit Empörung arbeiten, um Aufmerksamkeit zu bekommen und Menschen einzufangen. Man kann sich dem ganz einfach entziehen, beispielsweise kann man TV-Sendungen, die immer wieder die Empörungswelle reiten, einfach abschalten (sachlichere Diskussionsrunden findet man beispielsweise auf Phoenix oder ARTE und manchmal in den Dritten Programmen), entsprechende stimmungsmachende Zeitungen kann man abbestellen und bei Facebook kann man Hetzgruppen und unmoderierte Medienseiten, auf denen Trolle, Bots und Radikale frei schalten und walten dürfen, verlassen.

Wenn wir nicht alle zu WahlverliererInnen werden wollen, dann dürfen wir uns den extremen Parteien nicht anbiedern und uns von ihnen auch nicht weiter die Themen aufdrücken lassen (- wohl aber ihre Wähler nach ihren Motiven fragen, gezielte Falschmeldungen, denen sie möglicherweise aufgesessen sind, entlarven, aber berechtigte Kritik am System und an uns auch annehmen). Aber wir müssen unsere Aufmerksamkeit wieder ausweiten: auf Themen wie Klimawandel, Bevölkerungsentwicklung und -ernährung, Resourcenschonung, gesunde Umwelt und vernünftige Arbeitsbedingungen, gerechte gesellschaftliche Entwicklung (vor allem angesichts von Globalisierung und Digitalisierung). Wir müssen überlegen und diskutieren, wie die Schere zwischen Arm und Reich verringert und faire Bedingungen für alle geschaffen werden können - bei uns, in Europa und weltweit. Die Welt wird kleiner und wir müssen im Guten zusammenwachsen - auch damit nicht alle bei uns wohnen wollen oder müssen. Die Alternative zur Verständigung mit den anderen Menschen - bei uns im Lande, um uns herum und weltweit - wären (Bürger-)Kriege, Not und Tod. Diese Alternative kann doch niemand ernsthaft wollen.

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Wie ordnet ihr/Sie die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 ein - ähnlich oder ganz anders? Ich freue mich über sachlich begründete Meinungen in den Kommentaren.

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